Interessierte Selbstgefährdung:
Schatten- und Sonnenseiten einer Führung durch Ziele
von Svenja Gimbel
Die moderne Arbeitswelt ist mehr denn je durch die sogenannten VUCA-Bedingungen geprägt: Volatility (Unbeständigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Um diesen Herausforderungen zu begegnen, setzen Unternehmen verstärkt auf individuelle und kollektive Selbstorganisation. Doch gerade in diesem Umfeld entstehen oft Dynamiken, die Mitarbeitende dazu verleiten, ihre körperliche und seelische Gesundheit aufs Spiel zu setzen – eine Strategie, die als „interessierte Selbstgefährdung“ bezeichnet wird.
Was ist interessierte Selbstgefährdung?
Interessierte Selbstgefährdung beschreibt das Verhalten von Mitarbeitenden, die aus eigenem Antrieb – oft ohne direkte Aufforderung – ihre Belastungsgrenzen überschreiten. Das Ziel ist dabei nicht die bewusste Selbstschädigung, sondern der berufliche Erfolg, die Sicherung des Arbeitsplatzes oder das Bedürfnis, Kolleginnen und Kollegen nicht im Stich zu lassen.
Ein solches Verhalten tritt häufig auf, wenn die normalen Anstrengungen nicht mehr ausreichen, um die gesteckten oder vorgegebenen Ziele zu erreichen. Laut einer Studie von Dettmers (2024) führt dies dazu, dass Beschäftigte über ihre Grenzen gehen – sei es durch das Ausfallenlassen von Pausen, das Arbeiten am Wochenende oder das Erscheinen zur Arbeit trotz Krankheit (Präsentismus).
Schatten- und Sonnenseiten einer Führung durch Ziele
Die Führung durch Ziele (Management by Objectives, MbO) ist eine Antwort auf die zunehmende Komplexität und Dynamik der Arbeitswelt. Statt detaillierter Vorgaben arbeiten Mitarbeitende anhand vereinbarter Ziele und nutzen ihre Autonomie, um diese zu erreichen. Dieses Modell bringt sowohl Vorteile als auch Herausforderungen mit sich:
Sonnenseiten der Führung durch Ziele:
- Autonomie und Flexibilität: Mitarbeitende genießen mehr Entscheidungs- und Handlungsspielraum.
- Verantwortungsübernahme: Angestellte agieren wie Selbständige und tragen aktiv zur Zielerreichung bei.
- Ergebnisorientierung: Unternehmen können ihre Effizienz steigern, indem sie klare Ziele definieren und den Zielerreichungsgrad messen.
Schattenseiten der Führung durch Ziele:
- Höhere Anforderungen an die Selbstorganisation: Mitarbeitende müssen sich selbst strukturieren und dabei gleichzeitig auf qualitative sowie wirtschaftliche Ergebnisse achten.
- Stress durch ökonomische Denkweise: Beschäftigte kalkulieren ständig, ob ihre Arbeit rentabel ist, was zu einer Verschmelzung von fachlicher und unternehmerischer Verantwortung führt.
- Erhöhte Belastung: Die Delegation von Verantwortung kann Mitarbeitende überfordern, insbesondere wenn klare Strukturen oder Unterstützung fehlen.
Die Ursachen
Die Gründe für interessierte Selbstgefährdung sind vielfältig und tief in der Unternehmenskultur verwurzelt:
- Unternehmensnormen und Erwartungen: Wenn das Überschreiten der eigenen Grenzen als selbstverständlich oder notwendig gilt, wird dies oft von neuen Mitarbeitenden übernommen.
- Angst vor Arbeitsplatzverlust: Insbesondere in unsicheren wirtschaftlichen Zeiten fühlen sich viele gezwungen, ihre Belastbarkeit zu demonstrieren.
- Verantwortungsgefühl: Der Wunsch, das Team zu unterstützen und die Arbeit nicht liegen zu lassen, kann ebenfalls zur Selbstüberforderung führen.
Entstehen Engpässe im Unternehmen, oder ist der Arbeitsdruck zu hoch, arbeiten Beschäftigte oft härter, auch ohne Anweisung. Sie wissen, dass ihr Verhalten gesundheitsschädlich sein kann, tun es aber dennoch, weil sie erfolgreich sein möchten, ihren Arbeitsplatz sichern oder ihre Kolleginnen und Kollegen nicht im Stich lassen wollen.
Deshalb ist es wichtig, die Arbeitsbedingungen in den Blick zu nehmen, die genau zu diesen ungesunden Mechanismen beitragen.
Die zwei Richtungen der interessierten Selbstgefährdung
Wie Studien von Mustafić, Dorsemagen, Baeriswyl, Knecht & Krause aus 2023 zeigen, lassen sich die Strategien in zwei Kategorien unterteilen:
- Extensivierende Handlungsstrategien
Hierbei setzen Mitarbeitende alles daran, ihre Ziele zu erreichen, auch wenn dies mit hohen Kosten für ihre Gesundheit verbunden ist. »Also: Ich mache mehr, als mir guttut, gehe über meine Grenzen.«
Beispiele:
- Verzicht auf Erholungspausen und Freizeit
- Arbeiten trotz Krankheit
- Konsum von Substanzen wie Kaffee oder Energydrinks zur Leistungssteigerung
- Verlängerung der Arbeitszeiten oder Intensivierung der Arbeit
- Vermeidende Handlungsstrategien
Diese Strategien werden eingesetzt, wenn die Zielerreichung unrealistisch erscheint. Statt Erfolg anzustreben, geht es darum, negative Konsequenzen zu vermeiden. Beispiele:
- Senken der Arbeitsqualität unter Zeitdruck
- Vortäuschen von Leistung
- Verzicht auf Austausch mit Kolleginnen und Kollegen
Warnsignale erkennen
Es ist wichtig, typische Warnsignale für interessierte Selbstgefährdung zu identifizieren und darauf zu reagieren. Zu diesen Signalen gehören:
- Häufiges Arbeiten am Wochenende oder im Urlaub
- Verzicht auf Erholungsphasen und informellen Austausch
- Nachlassende Arbeitsqualität durch Überlastung
- Arbeiten trotz Krankheit (Präsentismus)
- Konsum von stimulierenden Substanzen, um die Arbeitsleistung aufrechtzuerhalten
Rolle der psychischen Gefährdungsbeurteilung
Interessierte Selbstgefährdung kann immer dann auftreten, wenn es in der Organisation zu Überforderungssituationen kommt, in denen die normalen Anstrengungen der Beschäftigten nicht mehr ausreichen, um die selbst gesteckten oder vorgegebenen Ziele zu erreichen (Dettmers, 2024).
Ein wirksames Mittel, um interessierte Selbstgefährdung und deren Risiken frühzeitig zu erkennen und zu adressieren, ist die psychische Gefährdungsbeurteilung. Sie hilft dabei, Arbeitsbedingungen systematisch zu analysieren und psychische Belastungen zu identifizieren. Folgende Aspekte stehen dabei im Fokus:
- Erfassung von Überlastungssituationen: Durch Befragungen und Analysen können Engpässe und kritische Belastungspunkte identifiziert werden.
- Bewertung der Unternehmenskultur: Welche unausgesprochenen Normen und Erwartungen fördern selbstgefährdendes Verhalten?
- Maßnahmenableitung: Basierend auf den Ergebnissen können gezielte Maßnahmen entwickelt werden, um gesunde Arbeitsbedingungen zu fördern.
Handlungshilfe
Was kann in Bezug auf indirekte Steuerung gesundheitsgerecht gestaltet werden?
Lesen Sie hier wie Sie das Spannungsfeld zwischen „Autonomie und Controlling“ gestalten können: https://www.certo-portal.de/fileadmin/media/bilder/Landingpage-mitdenken-4.0/Fachwissen-Fuehren-durch-Ziele.pdf
Fazit:
Interessierte Selbstgefährdung ist ein komplexes Phänomen, das durch individuelle und organisatorische Faktoren beeinflusst wird. Sie kann langfristig nicht nur der Gesundheit der Beschäftigten, sondern auch der Leistungsfähigkeit und Kultur eines Unternehmens schaden. Die psychische Gefährdungsbeurteilung bietet eine wertvolle Grundlage, um Risiken frühzeitig zu erkennen und gezielt gegenzusteuern. Durch eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungsweisen und eine nachhaltige Gestaltung der Arbeitsbedingungen können Mitarbeitende und Unternehmen gleichermaßen profitieren. Gesundheit und Erfolg schließen sich nicht aus – sie bedingen einander.
Zum Nachlesen:
Dettmers, J. (2024). Interessierte Selbstgefährdung. In Wirtschaftspsychologie aktuell 1/2024, 44-49. Deutscher Psychologen Verlag: Berlin.
Mustafić, M., Dorsemagen, C., Baeriswyl, S., Knecht, M. & Krause, A. (2023). Wie gefährden Beschäftigte ihre Gesundheit?: Evidenz für Konstrukt- und Kriteriumsvalidität des Fragebogens zur Messung interessierter Selbstgefährdung (ISG). In Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie A&O, 67(4), 173-187.